Auf Schwedisch gibt einen wunderbaren Ausdruck: smultronställe. Das bedeutet wörtlich übersetzt „Erdbeerstelle“ – ein Ort, an dem schöne und viele Walderdbeeren wachsen. Und einer, den niemand anders kennt.
Das schwedische Wikipedia schreibt zu „smultronställe„:
Der Ausdruck „wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts benutzt, um einen Ort zu beschreiben, an den man gerne zurückkommt und der für andere nicht leicht zu finden ist. Ein „smultronställe“ ist ein Platz, an dem man sich wohlfühlt und sich entspannen kann; ein Ort, an den man sich zurückzieht, wenn man gestresst ist ist und viel zu tun hat. Beispiele können ein Café mit besonderem Stil sein, eine Lichtung im Wald oder ein Platz, nicht so gut bekannt, mit schöner Aussicht.“*
Ich finde diese Definition ganz zauberhaft! Weil er für mich das ausdrückt, was wahrscheinlich viele Hochsensible gut kennen: Den Wunsch, sich kurz mal an einen Ort zurückzuziehen, der eventuell nur für mich allein da ist, den keiner kennt, und an dem ich mich absolut wohl fühle. Gerne in der Natur – aber eben auch ein Café, in dem ich unbeobachtet bin, mich nicht unter Zeitdruck fühle („Wollen Sie noch etwas bestellen?!“), sondern meinen Gedanken nachhängen kann, lesen, zeichnen, schreiben.
„Herr Ober, a Melange bitte!“
Vor kurzer Zeit, im Urlaub, war ich an einem solchen Ort. Es war in Wien, und es war ein Kaffeehaus. Hier habe ich es vor ein paar Tagen schon einmal beschrieben.
Nun gibt es in Wien ja bekanntlich viele Kaffeehäuser. Sie gehören sogar zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe und gelten als „Institution“. Viele Künstler, Literaten und Gelehrte betrachteten ihr Kaffeehaus als ihr Wohnzimmer. Davon zehren die Kaffeehäuser noch immer, Touristenströme schieben sich zur Tür hinein auf der Suche nach freien Plätzen.
Darunter leidet allerdings der eigentliche Charme. Denn das Kaffeehaus will kein Touri-Magnet sein, sondern ein gemütliches Café, Gasthaus, ein Wohnzimmer, Aufenthaltsort, ein Treffpunkt. Wo man eben nicht schnell einen Kaffee hinunterstürzt, sondern sich aufhält.
„Mein“ Kaffeehaus ist so eines: mit abgewetzten Polsterbänken, schmalen Holzstühlen eine Einrichtung, die aus den 1950er Jahren stammt. Die Ober tragen hier noch Anzug und Fliege. Natürlich stehen die Klassiker auf der Karte: vom Omlette über die Tagessuppe bis zum Apfelstrudel und der Sachertorte, von der Himbeerbrause zur Melange. Ein riesiger Tisch mit Tageszeitungen und Illustrierten. Lautes Telefonieren ist unerwünscht, es gibt keine Hintergrundmusik. Sondern die leisen Gespräche der anderen Gäste plätschern ebenso durch den Raum wie das leise Geschirrklappern. Es ist entspannt. Dass auch hier einst ein Literat seinen Stammplatz hatte, spielt keine große Rolle.
Mein Hochsensiblen-Ich ist beruhigt
Ich fühle mich wohl hier. Denn:
- es gibt gemäßigt-viele Reize. Zu wenig wären für mich als Scanner nämlich auch langweilig. Aber es ist nicht „aufregend“ oder unkalkulierbar.
- es ist ruhig genug
- ich falle nicht auf, muss keinen Smalltalk machen und kann auch allein hier her kommen. Ich fühle mich unbeobachtet.
- für Essen und Trinken ist gesorgt, es muss aber nichts Aufwändiges bestellt werden
- die Atmosphäre ist distanziert-familiär. Stammgäste, so meine Beobachtung, gehören dazu und werden willkommen geheißen. Aber auch Fremde finden einen Platz.
Insgesamt ist es sehr unaufgeregt. Ich kann lesen, in Zeitungen schmökern, hole zwischenzeitlich mein Strickzeug oder mein Notizheft hervor.
Ich habe also meine smultroställe in Wien gefunden. Ideal für eine ausgedehnte Pause zwischen zwei Museen oder an einem grauen Regentag.
Inzwischen bin ich leider wieder zu Hause. Ich hätte auch hier gerne so ein Kaffeehaus. Ähnliches kenne ich hier nicht wirklich, auch wenn es schöne Cafés gibt. Vielleicht mache ich ja mal eine feine Entdeckung – oder eröffne eines Tages doch ein Hamburger Kaffeehaus…!?
* eigene Übersetzung